Kirche

Kirche unter freiem Himmel ist unser Versuch, Erfahrungen und Erlebnisse draußen in umfassende Bereiche kirchlichen Arbeitens mit hinein zu nehmen.

Ulrike Dittmar, Martin Scholz, Christian Scholz (Dittmar)

Kirche unter freiem Himmel

Glaube ist kein geronnener Lernstoff, sondern Erfahrung und Erlebnis. Das wollen wir in unserer klinischen Arbeit genauso vermitteln wie in der Gemeindearbeit, bei Einsätzen auf Campingplätzen oder bei der Begleitung von Kurgästen und in der Fortbildung kirchlicher MitarbeiterInnen.

Bevor wir noch über die Verbindung unserer kirchlichen Arbeitsbereiche (Kinder- und Jugendarbeit und Seelsorge) mit erlebnispädagogischen Lernmodellen nachdachten, war da zuerst einmal unser Ansatz, daß wir als MitarbeiterInnen in der evangelischen Kirche Menschen in ihren Lebenswelten – auf ihren eigenen Wegen – aufsuchen wollen.

„Wege gehen“ wurde zum Motto unserer Arbeit:

· Kindern und Jugendlichen „Wege ermöglichen“ durch Spielformen und erlebnispädagogische Aktionen.

· „Neue Wege gehen“ in der Fortbildung von JugendleiterInnen und PfarrerInnen.

· „Einen Weg mitgehen“ als Beschreibung dessen, was in unserer Seelsorgearbeit in Gemeinden und Kliniken passiert.

Diese verschiedenen Bereiche kirchlichen Arbeitens verbinden wir mit Erlebnispädagogik. Dazu arbeiten wir Pfarrerinnen und Pfarrer und Sportpädagogen zusammen. Die Verbindung Erlebnispädagogik – Kirche stellen wir hier vor.

„Wir machen etwas miteinander“

In den Sommerferien versuchen wir seit 1998 im Rahmen von Kirche unterwegs
gezielt mit erlebnispädagogischen Einheiten zu arbeiten. Bei Kirche unterwegs wohnen die MitarbeiterInnen genauso wie die UrlauberInnen in Wohnwagen auf dem Campingplatz. Unsere Angebote sind an möglichst alle Altersgruppen gerichtet, die auf dem Campingplatz vertreten sind. Die wichtigste Gruppe für unsere Arbeit waren Kinder im Alter von etwa 4 bis 12 Jahren. Wir formulierten als unsere Aufgabe: „wir machen ‚was miteinander“. Ob das mit einer Gruppe von 4 bis 12 Jährigen gelingen konnte?
Für Kinder gab es täglich ein bis zwei Angebote von etwa eineinhalb Stunden. Wir initiierten Spieleparkours , boten einzelne Aktionen, wie Schatzsuche oder Kanufahren an und bezogen biblische Themen und erlebnispädagogische Spiele aufeinander.

Die Treffen der Kinder standen immer unter einem Leitthema, zu dem wir dann mit den Kindern zusammen biblische Geschichten erarbeiteten. So flohen wir beim Thema „Engel“ mit dem Propheten Elia durch die Wüste und „schliefen“ mit ihm unter einem Baum und stärkten uns nach dem „Aufwachen“.
Mit dem Vertrauensspiel Plätzchenbacken begannen wir zum Thema Wasser
die Einheit Das Volk Israel zieht durch das Meer. Die Gruppe stand in zwei Reihen, die Kinder reichten sich die Hände und bildeten eine „Bahn“ durch das Meer. Sie waren das Wasser links und rechts des Volkes Israel, bei seinem Zug durchs Schilfmeer .
Der Aneignung eines Bibeltextes geht immer die eigene Erfahrung voran, darin sind sich moderne philosophisch- und theologisch-hermeneutische Überlegungen weitgehend einig .
Wir trennten diesen Ansätzen gegenüber noch einmal Alltags-„Erfahrung“ und das initiiertes „Erlebnis“ und stellten das Erlebnis vor das Kennenlernen der biblischen Geschichte. Zur Erfahrung wird das Erlebnis durch seine Interpretation mit Hilfe der Geschichte.

Am Beispiel der Schilfmeergeschichte kann das deutlich werden: Wir suchten nicht nach Erfahrungen der Kinder, die sie einmal in ihrem Leben mit dem Thema Vertrauen gemacht haben. Die intellektuell-theoretische und abstrakte Reflexion über gemachte Erfahrungen und das Zutrauen zu den anderen, um solche Erfahrungen in einer Gruppe zu erzählen, sind große Hürden, die jedem konstruktiven aktiven Gruppenprozeß im Weg stehen (ihn zumindest bremsen) .
Mit dem Spiel zu Anfang der Einheit ermöglichten wir den Kindern ein eigenständiges Erlebnis von Vertrauen, Halten und Gehaltensein. Mit diesen Metaphern führten wir die Geschichte ein.

Auf diese Weise mit Erlebnispädagogik und biblischen Texten zu arbeiten ist ein Umweg: Zwischen das Erleben, die Metapher und den Alltag tritt als Interpretationsschritt die biblische Geschichte. Die eigene Gegenwart, das je eigene Erleben wird mit Hilfe der Metaphern aus der erlebnispädagogischen Einheit und der biblischen Geschichte interpretiert.
Es entsteht eine doppelte Absicherung der Erfahrung :
das eigene Erlebnis vermittelt Interaktionen, Gefühle etc., die biblische Geschichte vermittelt die historisch-spirituelle Gewißheit, daß das eigene Erlebnis eine akzeptable (weil über Jahrtausende tradierte) Verbindung der gemachten Interaktionen, Gefühle etc. ist.

Unsere erste Feststellung ist, dass es tatsächlich möglich war mit einer Gruppe Kindern zwischen 4 bis 12 Jährigen zu arbeiten. Es gelingt ein soziales Miteinander, ein voneinander Lernen, das bereits die Reformpädagogen Anfang des 20. Jahrhunderts propagierten. . Was uns jedoch noch mehr erstaunt ist die Tatsache, dass die Gruppe auch außerhalb der Angebote zusammen bleibt. Leider gelingt es kaum, dass sich Neuankömmlinge diesen einmal gebildeten Gruppen anschließen können. Die gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen innerhalb einer kurzen Zeit bringen die Jungen und Mädchen zu einer sehr engen Gemeinschaft über die Altersgrenzen hinweg.

Das Wiedererstehen des Eigenen

Erlebnispädagogik als biblisch-theologische Fortbildung für JugendleiterInnen – das stößt innerkirchlich erst einmal auf Widerstand. Zu weit fallen Klettererfahrung und Bibeltext auseinander. Wo fängt Bibellesen an?

Es ist in der hermeneutischen Debatte in den Kirchen nach wie vor umstritten, ob eine genaue Auseinandersetzung mit der eigenen Person – in all ihren Facetten – und eine Klärung des eigenen Standpunktes zu den Fundamenten des Verstehens von Texten gehören . Wir meinen, die Botschaft der Bibel nicht unabhängig von unseren gemachten Erfahrungen und Erlebnissen verstehen zu können. In Gruppen und Kirchengemeinden haben wir gelernt, biblische Texte immer vor und mit unseren eigenen Erfahrungen zu lesen.

Diese Erfahrungen wollen wir möglichst deutlich zur Sprache bringen. Eine Möglichkeit der Auseinandersetzung wäre die abstrakte Reflexion des eigenen Alltags, der Vorbedingungen eigenen Verstehens. Damit bleibt das Arbeiten jedoch in beschreibend-abstrakten Prozessen und damit klassisch protestantisch – wort- und theoriezentriert oder, um es weniger polemisch zu sagen, auf einem mehr oder weniger akademischen Niveau . Die Möglichkeiten der rechten Hirnhälfte – intuitives Erleben, Phantasie und Gefühle – bleiben weitgehend ungenützt, auch wenn gerade das in neueren Entwürfen eigentlich gewollt ist.

Anstelle einer theoretischen Auseinandersetzung mit der eigenen Person, setzten wir das aktuelle Erlebnis. Der Bibeltext wird vor dem aktuell Erfahrenen und Erlebten gelesen. Brücken des Lesens und Verstehens sind die Metaphern, die in einer Aktion und in den damit verbundenen Interaktionsformen und Emotionen auftauchen und die in der Begegnung mit den Bibeltexten wiedererstehen: Das Eigene – die eigene Erfahrung verbindet sich mit einer Geschichte.

Ein ganz kurzes und einfaches Beispiel macht den Unterschied biblisch-theologisch Arbeitens mit und ohne konzentration auf eigenes Erleben noch einmal anschaulich:

Berg, mächtig, groß, unbezwingbar… – das sind gängige Bilder, die zum Begriff Fels assoziiert werden. Es fällt auf, dass diese Begriffe eher Abstand als Nähe ausdrücken. Man geht zum Fels auf Distanz.
Festhalten, sichere Griffe, Weg nach oben, griffiges Gestein… – die Metaphern verändern sich, wenn man im Fels zum Klettern war. Es entsteht dann in der Begegnung mit Bibeltexten ein ganz anderes Gottesbild:
Wer ist ein Fels, wenn nicht unser Gott? (Ps 18,32)
Der HERR lebt! Gelobt sei mein Fels! (Ps 18,47)
Lass dir wohlgefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir, HERR, mein Fels und mein Erlöser. (Ps 19,15).
Fels – Nähe, Sicherheit, Halt. Solche Assoziationsreihen sind aus dem abständigen Betrachten eines Felsen nur schwer möglich. Erfahrung und Textverständnis sind unmittelbar aufeinander bezogen.

Wichtig ist hier die Differenz zwischen einer vorgefaßten Interpretation ohne Erlebnis und einer Interpretation nach einer Kletteraktion.

Ähnlich, wie „Fels“ erfahrbar gemacht werden kann, finden sich viele Bibeltexte, deren erzählte Geschichte oder deren verwendete Bilder erlebt werden können. Gesteht man Erfahrungen in erlebnispädagogischen Aktionen z.B. persönlichkeitsverändernde Wirkungen zu, können sie in Verbindung mit biblischen Texten eine neue Qualität und Tiefe der Gotteserfahrung erschließen.

Ferkelreiten – Pflicht!?
Erlebnispädagogik in der kirchlichen Fortbildung

Erwachsen aus dem Wunsch, jugendlichen MitarbeiterInnen einer Kirchengemeinde Erleben und Lernen zu ermöglichen, entstand das Angebot einer Wochenendfortbildung: „Feuer, Wasser, Erde, Luft – Eine Einführung in die Erlebnispädagogik“.

Den TeilnehmerInnen (8 Jugendliche im Alter von 16 bis 21) sollte ihre Rolle in der Gruppe, erlebnispädagogisches Wissen im Handeln und in der Selbsterfahrung vermittelt werden.

Nach vorsichtigem „Begreifen“ des Gegenstandes „Erlebnispädagogik“ am Einführungsabend folgten Aktivitäten, in denen Fragen der Gruppenleitung fokusiert wurden
Gleichzeitig waren die TeilnehmerInnen auch gefordert sich selbst in unterschiedlicher Zusammensetzung mit den Stärken und Schwächen als Gruppe wahrzunehmen und darin zu agieren.
Daß dabei „Ferkelreiten“ (eine neue, zufällige und mögliche Zusammensetzung der Buchstaben, die das Wort REFLEKTIEREN bilden und die in einer Spieleinheit entstand) Pflicht war, wurde schnell akzeptiert und immer wieder in der Gruppe, aber auch in Einzelgesprächen praktiziert.

„Wenn mir vor zwei Tagen jemand gesagt hätte, daß ich das mache, den hätte ich ausgelacht“, so fasst am Abend , nach einem Tag, der Kletteraktionen gewidmet war, ein Teilnehmer seine Erfahrung zusammen.
Die Anleitung, das Material aber auch die Sicherung durch Trainer und Gruppenmitglieder, die Erfahrung, daß man sich aufeinander verlassen kann, führten dazu, daß jede/r TeilnehmerIn Ängste zugeben („Ich muß jetzt als erster abseilen, sonst traue ich mich gar nicht mehr!“) und überwinden konnte.
Die nachträgliche Reflexion des Erlebten verband die Gruppe noch enger. Es eröffnete sich nach dem „gemeinsam Überstandenem“ auch die Möglichkeit über Ängste und Schwierigkeiten in der eigene Gruppenleitertätigkeit zu reden.
Der letzte Vormittag war ausgefüllt mit Aktivität auf dem Wasser ( Kanufahren), den Gefahren, aber besonders auch dem Spaß dabei.

In der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vieler Gemeinden werden seit Jahren „erlebnispädagogische Wege“ gegangen. Neu sind gezielte Fortbildungen – oder um in der Metapher zu bleiben – „geführte Wanderungen“ durch die Erlebnispädagogik.
Eine Fortbildung im Bereich Erlebnispädagogik ist immer Selbsterfahrung und Multiplikatorenschulung zugleich. In der Bewusstmachung des eigenen Erlebnisses und Lernprozesses und in der Kenntnisnahme der Erlebnisse und Lernprozesse anderer liegt die Chance zum richtigen Umgang mit erlebnispädagogischen Aktionen. Dabei sind Aktionen nicht der ultimative Reiz, der zur Veränderung führen muss, ihre kognitive Aufarbeitung führt nicht unbedingt zu mehr Erkenntnis und ihre metaphorische Verknüpfung mit dem Alltag der TeilnehmerInnen gelingt nicht immer. Aber bei richtiger Gestaltung bergen sie ein Potential und schaffen den Raum für selbstgesteuertes Lernen. Dieser richtigen Gestaltung dient das pädagogische Augenmerk.

Noch einmal erleben – Erfahrungen in der Seelsorge

Noch einmal ganz anders arbeiten wir mit Patienten und Patientinnen und älteren Menschen:
In der klinischen Seelsorgearbeit begegnen sie uns täglich und die wir haben diesen ganzen Arbeitsbereich mit Erlebnispädagogik zunächst einmal nicht in Verbindung gebracht.
PatientInnen und Kurgäste sind oft weit über 70 Jahre alt.
Es zeigen sich aber gerade bei Kur- und Krankenhausaufenthalten Ansatzmöglichkeiten die Erlebnisse der PatientInnen zu wichtigen Elementen im Therapie- und Lebensprozeß zu machen.
Ein Beispiel dafür ist das „noch einmal erleben“

Eine oft gestellt Frage älterer PatientInnen ist: Nehmen Sie uns auch noch (einmal) mit zum Wandern?
In dieser Frage steckt eine Menge vorgefaßter Einstellung zur eigenen Person, zum Altsein, zu dem was einem Menschen gut tut. Es ist eine gehörige Portion Sehnsucht nach Erlebnissen aus einer Zeit, in der der eigene Körper noch eine Wanderung erlaubte. Zugleich steckt im Nocheinmal das Wissen oder die Ahnung, dass diese eine Wanderung tatsächlich einen Schlußpunkt oder Wendepunkt in der eigenen Biografie setzen kann.

Bei Wanderungen mit älteren PatientInnen stehen zwei Aspekte im Vordergrund: das eine ist das Wahrnehmen und Akzeptieren einer verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit und das andere das Erleben neuer Möglichkeiten für das Zusammensein mit anderen Menschen, für Wanderungen und Spazierwege und für das Erlebnis draußen.
Dabei gewinnt die Wahrnehmung der körperlichen Leistung während des Weges einen größeren Stellenwert. Sie kann zur Metapher für die individuelle Biografie werden .

Etwas nocheinmal/ein letztes Mal machen:
Das setzt einen Erinnerungsprozeß in Gang. Alte Wanderfreunde tauchen plötzlich auf und Wege, die man gegangen ist, Geschichten aus dem Leben werden erzählt und damit auch viele Abschiede, die ein alter Mensch erlebt hat. Immer war der Abschied von den eigenen Möglichkeiten präsent und oft auch ausgespochen: Das ist die letzte Wanderung, die ich mache oder, weniger drastisch und damit auch neue Möglichkeiten berücksichtigend in diesem Tempo macht es noch richtig Spaß zu wandern.

So kann die Erfahrung der Begrenzung und gleichzeitig die Wahrnehmung anderer Umgangsmöglichkeiten damit zur Methapher werden, Abschiede im Alltag zu akzeptieren und zu gestalten.

Wir haben im Raum der Kirche Erlebnispädagogik als einen Rahmen entdeckt, der unsere Arbeit trägt. Angefangen von theologischen und philosophischen Überlegungen, z.B. wie ein Bibeltext gelesen werden kann bis hinein in unsere Praxis als Jugendleiterinnen und- leiter und Sellsorgerinnen und Seelsorger. Unsere Erfahrung ist: Dort wo wir konsequent erlebnipädagogisch arbeiten kommen wir am problemlosesten unserem Anspruch nach: Die Menschen sind auf dem Weg und wir gehen den Weg ein Stück mit.